Soll Gesichtserkennung verboten werden – oder doch gleich der Zugang zum Darknet? Sollen wir den Handel mit Überwachungssoftware unterbinden – oder europäische Produkte am Weltmarkt fördern? Bestärkt das Internet tradierte Herrschaftsmuster – oder ist es ein ideales Medium für Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern? Mit all diesen Fragen wird sich der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestags heute in einer öffentlichen Sitzung befassen. Die Abgeordneten werden nicht auf jede Frage gleich eine Lösung finden. Aber dass sie gestellt werden, und dies gerade jetzt, ist besonders wichtig. Denn im zweiten Halbjahr 2020 kann Deutschland ganz entscheidende Beiträge zur Zukunft des Menschenrechtsschutzes im Digitalen und in der globalen Ordnung des Internets leisten.
Warum Deutschland, warum jetzt?
2020 kann die deutsche Diplomatie so effektiv wie schon lange nicht mehr zentrale Themen auf der digitalen Agenda in die Welt tragen. Deutschland ist in diesem Jahr Mitglied sowohl im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als auch im Menschenrechtsrat und damit in den beiden zentralen UNO-Gremien, in denen – zugegeben: nicht immer erfolgreich – für eine menschenrechtsbasierte internationale Friedensordnung gearbeitet wird. Hier sind digitale Aspekte verstärkt einzubringen: Deutschland kann noch stärker auftreten für die Stabilisierung der in zwei anderen UNO-Arbeitsgruppen diskutierten Normen für verantwortungsvolles Staatenverhalten im Cyberspace und beitragen zur Klärung, welche völkerrechtlichen Grenzen Staaten wie China und Russland zu beachten haben. Desinformation zu lancieren, geht gerade in Zeiten von Corona etwa gar nicht.
Teilhabe am Internet der Zukunft
Deutschland hat aber auch eine besondere Rolle in der Reform der Internet Governance. Als „Co-Champion“ für zwei Empfehlungen des Berichts des High-Level Panel des UNO-Generalsekretärs über digitale Kooperation steht Deutschland in der Verantwortung, Optionen für eine menschenzentrierte und politische Teilhabe fördernde Reform der digitalen Kooperationsarchitektur vorzulegen. Noch im Juni präsentieren Wirtschafts- und Außenministerium dem UNO-Generalsekretär erste Erkenntnisse; ein längeres Paper folgt dann später. Anlässlich des 75. Geburtstags der UNO wird im Herbst ernsthaft über die Reform der Institutionen der Internetpolitik gesprochen werden.
Besonders bemerkenswert sind die von den beiden Ministerien im Kontext der Reform durchgeführten Multistakeholderbefragungen und globale Bürgerdialoge. Gemeinsam mit Missions Publique und dem Internet & Jurisdiction Policy Network haben Außen- und Wirtschaftsministerium vorbildhaft vorgezeigt, wie man im 21. Jahrhundert digitale öffentliche Politik macht: Indem man alle Stakeholdergruppen, gerade auch außerhalb der Grenzen des eigenen Landes, miteinbezieht. Das könnte ein Modell für die Verstärkung der deliberativen Dimension demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse werden und Teilhabemöglichkeiten aller Stakeholder an der Entwicklung neuer Normen und Institutionen mit Internetbezug befördern.
Darüber hinaus hat Deutschland im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft (Juli-Dezember 2020) die Möglichkeit, auf europäischer Ebene für menschenrechtsbasierte und technologiesensible Politiken hinzuwirken – man denke an den neuen Rechtsrahmen für digitale Dienste – und Werte europäischer Digitalpolitik in die Außenpolitik zu integrieren. Insbesondere die digitale Außenpolitik in Hinblick auf Afrika sollte getragen sein von einem bewussten Eintreten für die Bedeutung des Menschenrechtsschutzes im Internet, für globale digitale Güter, für nachhaltige Digitalisierung und digitalisierte Nachhaltigkeit.
Internet für alle
Aber auch in Deutschland selbst ist die Zeit gekommen, eine wichtige Wegmarke zu setzen: Internet für alle. Besonders in der Corona-Zeit merken wir, wie wichtig eine schnelle, verlässliche Internetverbindung ist, um kommunikative Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, sich zu informieren, zu lernen, zu arbeiten. Voraussetzung für die Ausübung der Menschenrechte im Internet sind der Zugang zum Internet, der durch staatliche Infrastrukturmaßnahmen sicherzustellen ist, und der Zugang zu Internet-Inhalten, der vor überschießender Zensur zu schützen ist.
Ein Zugang zum Internet alleine reicht allerdings nicht aus, um Grund- und Menschenrechte in der Digitalität zu sichern. Das Recht auf Internetzugang umfasst auch den Schutz legaler Inhalte im Netz. Hier erfüllen sowohl der Staat als auch der Privatsektor eine wichtige Rolle. Die primäre Verantwortung für Achtung, Schutz und Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte verbleibt aber bei den Staaten. Mit der staatlichen Pflicht der Sicherung der Teilhabe aller am Kommunikationsraum korrespondiert ein individueller Leistungsanspruch – auf Zugang, ausreichende Datenraten, Endgeräte. Die Zeit ist gekommen, Internetzugang für alle und leistbare, sichere Endgeräte als Leistungen der Daseinsvorsorge zu definieren.
Die ersten Monate 2020 haben mit ihren Zoom-Konferenzen, mit den großelterlichen Vorleseabenden über Skype, mit der Schule über Online-Klassenräume gezeigt, dass es ohne Internet nicht mehr geht. In der zweiten Jahreshälfte hat Deutschland nun die Chance, im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft, im Sicherheitsrat, im Menschenrechtsrat und bei der Reform der digitalen Kooperationsordnung zu zeigen, wie ein menschenrechtsbasiertes und entwicklungsorientiertes Internet für alle aussehen sollte.
Matthias C. Kettemann, LL.M. (Harvard) ist Forschungsprogrammleiter am Leibniz-Institut für Medienforschung (Hans-Bredow-Institut), Hamburg und vertritt eine Professur für Internationales Recht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im Juli erscheint sein aktuelles Buch zu Recht und Macht online: The Normative Order of the Internet (Oxford University Press).
Der Beitrag basiert auf der Stellungnahme des Verfassers für die öffentliche Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Bundestags zum Thema „Menschenrechte und politische Teilhabe im digitalen Zeitalter“ (heute ab 14 Uhr). Die Sitzung wird zeitversetzt auf bundestag.de übertagen. Der Verfasser war als Berater in den Stakeholderbefragungen von BMWi und AA beteiligt.