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Digitalisierung & KI

Standpunkte Ein Überwachungsstaat ist nicht unser Gesellschaftsmodell

Svenja Hahn (FDP) und Sergey Lagodinsky (Bündnis 90/Die Grünen)
Svenja Hahn (FDP) und Sergey Lagodinsky (Bündnis 90/Die Grünen) Foto: Hannah Lebershausen-Theobald/Hani Kanaftchian

Bei den Verhandlungen zum AI Act darf die Bundesregierung ein Verbot biometrischer Echtzeitüberwachung im öffentlichen Raum nicht aus verhandlungstaktischen Gründen aufgeben, fordern die Europaabgeordneten Sergey Lagodinsky (Bündnis 90/Die Grünen) und Svenja Hahn (FDP).

von Svenja Hahn und Sergey Lagodinsky

veröffentlicht am 05.10.2023

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Die Verhandlungen zum europäischen KI-Gesetz, dem sogenannten AI Act, gehen in die heiße Phase. Das Europäische Parlament hat sich klar für ein Verbot von biometrischer Echtzeitüberwachung im öffentlichen Raum ausgesprochen. Nun wollen EU-Kommission und Rat dieses klare Bekenntnis aufweichen. Unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung wollen sie Pandoras Büchse der staatlichen Massenüberwachung öffnen.

Indes ist bekannt, dass solche Massenüberwachung ihre Ziele verfehlt, dafür aber das Zusammenleben in einer Gesellschaft grundlegend verändert. Modellversuche haben gezeigt, dass die Fehlerquote solcher Systeme beträchtlich ist – falsche Identifizierungen würden unweigerlich zu Diskriminierungen und falschen Verdächtigungen führen. Aber noch viel grundsätzlicher: Mit biometrischer Massenüberwachung würden wir die Axt an unsere Bürgerrechte und damit an unsere Demokratie legen. Allein das Gefühl, immer und überall überwacht zu werden, sich nicht mehr unerkannt auf Straßen der eigenen Stadt bewegen zu können, das verändert eine Gesellschaft. Die massenhafte Überwachung und Gesichtserkennung ist ein Mittel aus dem Instrumentenkasten der totalitären Staaten.

Wozu das führen kann, kennen wir aus China und Russland, wo Menschen bei Demos erfasst und mithilfe von Gesichtserkennung in U-Bahnhöfen festgenommen werden. Menschen werden mit dem Kostbarsten und dem Persönlichsten, was sie ausmacht – mit ihren Gesichtern – ihrer Freiheit beraubt. Wollen wir diesen Weg in Europa einschlagen?

Aus dem Europäischen Parlament beantworten wir diese Frage mit einem entschlossenen Nein. Das ist ein starkes Signal für Bürgerrechte, denn wir fordern ein Verbot biometrischer Überwachung im öffentlichen Raum. Doch damit dieses Votum für Freiheit auch Gesetz wird, brauchen wir die Zustimmung der Mitgliedsstaaten. In den laufenden Verhandlungen erhält das Parlament aber keine Unterstützung. Mit einer einzigen Ausnahme: der Ampel-Regierung.

Die Bundesregierung muss ihre klare Linie beibehalten

Den Rückenwind aus Berlin verdanken wir den Geburtsstunden der Koalition. Wir beide waren Teil der Koalitionsverhandlungen und erlebten, wie der frische Geist des Einsatzes für die Bürgerrechte die neue Regierung erfasste und einte. Auf einmal war es möglich, die freiheitliche Selbstverständlichkeit nicht nur auszusprechen, sondern auch schwarz auf weiß festzuhalten: „Das Recht auf Anonymität sowohl im öffentlichen Raum als auch im Internet ist zu gewährleisten“, so der Koalitionsvertrag. Ein Triumph der liberalen Demokratie, der bis heute strahlt.

Nun liegt es in der Hand der Bundesregierung, diese klare Linie beizubehalten und nicht aus verhandlungstaktischen Gründen aufzugeben. Und auch die vereinzelten Überwachungsfans aus den Innenministerien, ob im Bund oder den Ländern, sollten verstehen: Ein Überwachungsstaat ist nicht unser Gesellschaftsmodell.

Dies gilt insbesondere für die Echtzeitüberwachung im öffentlichen Raum. Aber auch einer zeitverzögerten biometrischen Überwachung wollen wir als Parlamentarier einen Riegel vorschieben: Um mögliche Einfallstore der Massenüberwachung zu schließen, hat sich das Europäische Parlament auch für ein Verbot nachträglicher biometrischer Erkennung ausgesprochen. Denjenigen, die sich um die Wirksamkeit der Strafverfolgung sorgen, sei gesagt: Ausnahmen für die gezielte Suche nach Personen in Zusammenhang mit schweren Straftaten bleiben erhalten – mit Richtervorbehalt, wie es sich in einem Rechtsstaat gehört. So ist die Auswertung von Beweismaterialien möglich, ohne, dass eine Überwachungsinfrastruktur in der EU aufgebaut wird.

Als Vertreter der grünen und der liberalen Fraktionen des Parlaments sitzen wir nun am Verhandlungstisch zum AI Act den europäischen Regierungen gegenüber. Und wir sind fest entschlossen, die deutsche Regierung nach Kräften dabei zu unterstützen, das Verbot massenhafter biometrischer Erfassung durchzusetzen.

Wenn die Technologie einmal im öffentlichen Raum installiert ist, ist schon jetzt vorprogrammiert, dass einige EU-Mitgliedsstaaten die Tür zur Massenüberwachung noch weiter aufstoßen – sei es aus Kontrollphantasien autoritär regierter Staaten wie Ungarn oder unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung wie Frankreich. Der Druck kommt von vielen Seiten, aber die Bundesregierung steht hier auf der richtigen Seite der Geschichte. Diesen Kurs müssen wir gemeinsam beibehalten. Es geht um nichts Geringeres als um unser Recht auf Privatheit im öffentlichen Raum und damit um unsere Freiheit.

Die Europaabgeordneten Sergey Lagodinsky (Bündnis 90/Die Grünen) und Svenja Hahn (FDP) verhandeln das AI Act als jeweilige Schattenberichterstatter ihrer Fraktionen auf der Seite des Europäischen Parlaments.

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