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Digitalisierung & KI

Standpunkte Eins zu null fürs Fediverse

Ex-Tech-Journalist und Kommunikationsberater Stephan Dörner
Ex-Tech-Journalist und Kommunikationsberater Stephan Dörner Foto: Friederike Kalz

Dank Elon Musk erlebt die alternative Social-Media-Plattform Mastodon den bislang größten Nutzer*innenansturm ihrer Geschichte, analysiert Stephan Dörner. Durch seiner Twitter-Übernahme verschafft Musk der Vision eines dezentralen „Web0” neuen Aufwind – als Alternative zum „Web3“ der „Krypto-Bros“.

von Stephan Dörner

veröffentlicht am 16.11.2022

aktualisiert am 20.11.2022

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Seit Elon Musk Twitter übernommen hat, herrscht dort Chaos: Erst wird die Hälfte der Belegschaft entlassen. Dann wird zahlreichen frisch Entlassenen hinterhertelefoniert, weil man merkt, dass sie doch noch gebraucht werden. Die einst heiß begehrten blauen Echtheits-Haken werden für 8 Dollar ohne jede Verifizierung verramscht, wodurch sie jeden Sinn verlieren. Accounts mit Millionen Followern verlassen die Plattform oder werden gesperrt, weil sie sich in Elon Musk umbenannt haben. Kurz: Es gibt zahlreiche Gründe, dem sozialen Netzwerk mit dem blauen Vogel den Rücken zuzukehren – und viele tun das auch. 

Die beliebteste Alternative zu Twitter ist Mastodon, das 2016 von dem in Berlin lebenden Programmierer Eugen Rochko gegründet wurde und ein Dienst für das dezentrale Fediverse ist. Und da wären wir auch schon bei dem Begriff, der vielen IT-Enthusiasten und Open-Source-Fans das Herz schneller schlagen lässt.

Was ist eigentlich das Fediverse?

Denn Elon Musk hat mit der chaotischen Übernahme nicht nur einer Twitter-Konkurrenz eine große Bühne verschafft, sondern auch dem Konzept dahinter. Mastodon ist nur der populärste Dienst eines seit einigen Jahren stetig beliebter werdenden Konzepts namens Fediverse – einer Föderation von Netzen. Im Fediverse werden nicht nur Alternativen zu Twitter betrieben, sondern für alle großen populären Dienste des Webs – von Instagram (Pixelfed) über Facebook (friendica) bis Youtube (PeerTube).

Das Fediverse ist eine Umsetzung der Idee, dass Dienste des Internets nicht zentral auf den Servern einer Plattform wie Twitter oder Facebook laufen sollten, sondern auf vielen dezentralen Servern, die von jeder beliebigen Person, Unternehmen oder Organisation betrieben werden können. Alle diese verschiedenen Server kommunizieren dann untereinander über offene Standards und Protokolle – und so entsteht eine Plattform von gleichberechtigten Servern ohne zentrale Instanz, die alle miteinander verbunden sind. Wer sich dabei nicht an die gemeinsamen Regeln hält, fliegt raus und wird von den anderen Instanzen geblockt.

Die Dezentralität von Mastodon ist auch sperrig

Für die Nutzer*innen dieser Dienste bedeutet das eine Umstellung. Bevor der Musk-Twitter-Flüchtling sein erstes Posting bei Mastodon absetzen kann, muss er schon die erste schwerwiegende Entscheidung treffen: Welcher der vielen möglichen Mastodon-Server soll es denn sein? Sehr viele entscheiden sich derzeit für den größten Server mastodon.social

Das läuft der ursprünglichen Idee ein Stück weit entgegen. Denn wenn ein Großteil der neuen User denselben Server nutzen, verliert Mastodon damit zumindest einen Teil seiner dezentralen Struktur.  Zudem müssen Nutzer*innen dem Server-Betreiber auch vertrauen. Musk mag sich bei Twitter wie ein Diktator verhalten – bei Mastodon aber gibt es viele kleine Instanz-Diktatoren, die nicht nur volle Kontrolle über die Inhalte haben, sondern auch technischen Zugriff beispielsweise auf die Nachrichten, die unter User:innen ausgetauscht werden. 

Auch sonst legt das dezentrale Konzept Usern zunächst einmal einige Steine in den Weg: So ist die Suche nach Usern und Inhalten über die Instanzen hinweg weniger bequem als bei Twitter. Usern von anderen Instanzen zu folgen ist in manchen Fällen ebenfalls komplizierter als von Twitter gewohnt.

„Ewiger September“ bei Mastodon?

Vor allem aber ist der Massenzuzug von Twitter-Nutzer:innen für die Mastodon-Community ein Kulturschock. Dort hat sich in den vergangenen Jahren, seit Mastodon 2017 erstmals wahrnehmbare Popularität erlangte, eine ganz eigene Netiquette entwickelt. Und auch wenn Mastodon-Gründer Eugen Roschko darauf hinweist, dass es nicht den einen Konsens darüber gibt, welche Inhalte beispielsweise hinter einer Warnung verborgen werden sollten, ist alleine schon die weit verbreitete Nutzung solcher „Content Warnings“ für viele Twitter-Exilanten ein Kulturschock. 

Der US-Journalist Adam Davidson beispielsweise bemerkte schon, dass er gerne ein „guter Nachbar“ im Fediverse wäre, aber einige Leute für aufwühlende Nachrichten gerne eine Content-Warnung hätten. Einige Server hätten daher bereits damit begonnen, die Journalist*innen-Instanz journa.host zu blocken. Die Admins jeder Instanz machen dabei ihre eigenen Regeln, wodurch es schon jetzt kein einheitliches Mastodon gibt. Klar rechtsradikale Instanzen werden von fast allen Servern geblockt – doch die Grenzen verlaufen sehr unterschiedlich. Erst am Freitag hat die Instanz octodon.social die gesamte Instanz social.tchncs.de geblockt, weil ein User dort geschrieben hatte, er sei sich nicht sicher, ob es ein Problem sei, wenn Menschen beim Dating bestimmte Ethnien bevorzugen. 

Dass Internet-Communitys nach einem massenhaften Zuwachs von Nutzer:innen ihren Charakter dauerhaft verändern, ist übrigens kein neues Phänomen. Schon 1993 sprachen Usenet-User:innen vom „ewigen September“, nachdem große Internet-Provider wie AOL in den USA den eigenen Nutzer:innen einfachen Zugriff auf die Usenet-Foren erlaubten. Manch ein langjähriger Mastodon-Nutzer sieht daher nun auch für dieses Netzwerk den Beginn eines ewigen Septembers

Auch technisch ist die plötzliche Popularität von Mastodon eine Herausforderung. Programmierer Aral Balkan beschreibt in einem Blogartikel, wie ein beliebtes Posting von ihm den Server seiner eigenen Mastodon-Instanz in die Knie zwang – ein Problem, das größer wird, je mehr Instanzen und je mehr Inhalte es gibt. Gerade in Deutschland gibt es beim Betrieb von Mastodon-Instanzen natürlich auch rechtlich einiges zu beachten

Doch trotz aller Probleme: So, wie Prominente schon Twitter groß und attraktiv gemacht haben, sorgen auch jetzt bekannte Persönlichkeiten von Greta Thunberg über Stephen Fry bis Jan Böhmermann dafür, dass Mastodon eine noch nie gekannte Popularität erlebt – und damit auch das Fediverse-Konzept dahinter. Gerade für viele IT-Begeisterte und große Teile der Open-Source-Szene sind das gute Nachrichten.

Linke und rechte Visionen einer dezentralen Netz-Zukunft

Denn wenn sich Nerds – egal ob in der libertär geprägten Krypto-Szene oder im links geprägten Fediverse – in einem einig sind, dann darin: Dezentralität ist gut, große und mächtige Plattformen nerven.

Das populärste Konzept der vergangenen Jahren, das die GAFA-Welt (Google, Apple, Facebook und Amazon) ablösen sollte, wurde von seinen Anhänger*innen der libertär geprägten Krypto-Szene Web3 genannt. Ein Netz basierend auf Verschlüsselung, sicherer Datenübertragung und Kryptowährungen, in dem jede*r die Hoheit über seine eigenen Daten hat, die durch eine Krypto-Wallet geschützt werden. Ein Netz frei sowohl vom Einfluss großer Plattformen als auch von Staaten und Regulierung, weil in Blockchains gespeicherte Daten kaum noch gelöscht werden können.

In dieser Vision des Netzes wird fast jede Interaktion zu einer Transaktion von Kryptowährungen und bekommt damit einen kommerziellen Charakter. Anders als im aktuellen Web 2.0 sollen davon aber nicht große und mächtige zentrale Plattformen profitieren, die Zugang und Daten monopolisieren, sondern jede*r einzelne Nutzer*in. 

Die Anhänger*innen des Fediverse teilen den Traum der Dezentralität – wollen sie aber mit genau gegenteiligen Mitteln erreichen: Kein Kommerz, keine Werbung, keine Tracker – und vor allem keine Blockchain. Das Fediverse setzt dagegen auf klassische offene Internet-Standards, wie sie schon für das Web und E-Mail genutzt werden. Mastodon beispielsweise nutzt mit ActivityPub einen offiziellen Web-Standard des W3-Konsortiums, unter dessen Führung auch andere Web-Standards wie HTML entwickelt werden. Fediverse-Anhänger*innen nennen ihr Konzept in Abgrenzung zu Web3 daher auch Web0: „Web0 ist Web3 ohne den ganzen rechtslibertären Silicon-Valley-Bullshit“, heißt es im web0-Manifest

Bislang hat keine der vielen Web3-Anwendungen, sogenannte dApps, es außerhalb des Kryptohandels je zu einer vergleichbaren Popularität gebracht, wie sie Mastodon nun dank Elon Musk erreicht hat. Im Kampf der Konzepte um ein mögliches dezentrales Netz nach der GAFA-Welt steht es 1:0 für das Web0. 

Stephan Dörner war lange Tech-Journalist und ist Mitgründer der Impact-Tech-Kommunikationsberatung fph. Auf Mastodon finden Sie ihn hier: https://social.tchncs.de/web/@doener 

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