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Digitalisierung & KI

Standpunkte Selbstbestimmung durch Technik

Michael Baurmann, Soziologe und CAIS-Direktor
Michael Baurmann, Soziologe und CAIS-Direktor Foto: Margaret Birbeck

Die Vermittlung digitaler Kompetenzen ist eine wichtige Voraussetzung für ein autonomes und selbstbestimmtes Leben in der digitalen Gesellschaft. Um unrealistische Erwartungen an jeden Einzelnen zu vermeiden, müssen digitale Kompetenzen durch digitale Innovationen ergänzt werden, meint der Soziologe und CAIS-Direktor Michael Baurmann. Sie können Orientierung, Handeln und Entscheiden in der digitalen Welt unterstützen.

von Michael Baurmann

veröffentlicht am 11.05.2021

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Vor dem Siegeszug der Digitalisierung konnten sich die Menschen in unserer Gesellschaft von vielen Herausforderungen entlasten, mit denen sie jetzt wieder konfrontiert werden. So mussten sie etwa die Wahrheit der meisten Informationen nicht selber recherchieren, sich nicht auf eigene Faust gegen Hass und Verleumdung wehren oder sich nicht um die Sicherheit ihrer persönlichen Daten sorgen. Für die Kontrolle des Wahrheitsgehalts von Informationen boten sich etablierte Massenmedien als konkurrenzlos vertrauenswürdige Quellen an. Zum Schutz von Privatheit und persönlichen Daten existierten verlässliche staatliche Vorkehrungen und de facto begrenzte Angriffsmöglichkeiten. Angesichts persönlicher Anfeindungen konnte man auf Interventionen und Sanktionen in sozialen Netzwerken und Gemeinschaften hoffen.

Die Liste lässt sich leicht verlängern: Bei schwierigen Problemen delegierte man Entscheidungen regelmäßig an anerkannte Fachleute und vertraute ihrer besonderen Expertise. Auf dem Markt orientierten sich Verbraucherinnen und Verbraucher an einfachen Auswahlheuristiken, allgemeinen Werbebotschaften und unabhängigen Produktbewertungen alteingesessener Institutionen. Lehrende in Schulen konnten im gewohnten Rahmen des Präsenzunterrichts eingeübte didaktische Methoden anwenden und sich von detaillierten Curricula leiten lassen. In der staatlichen Verwaltung strukturierten und vereinfachten ausgefeilte bürokratische Regeln und vorgegebene Kommunikationskanäle den Kontakt mit der Öffentlichkeit.

Digitalisierung erzeugt neue Unsicherheiten

Die digitale Transformation der Gesellschaft hat diese Entlastungsfunktionen unterminiert: Fake News werden ungefiltert in digitalen Medien verbreitet, Teilhabe an der digitalen Welt wird mit der unkontrollierten Preisgabe von Privatheit bezahlt, Hate Speech bleibt anonym und sozial unsichtbar, unterstützende Algorithmen bei Fachentscheidungen sind für Laien intransparent, auf digitalen Märkten ist man personalisierter Werbung und einer Vielzahl an Bewertungsportalen ausgesetzt, als Lehrende sieht man sich mit der Forderung nach digitalen Lehr- und Lernkonzepten konfrontiert, und die Mitarbeitenden in der öffentlichen Verwaltung werden zu neuen Formaten digitaler Information und Kommunikation gedrängt.

Digitale Kompetenzen als Heilmittel?

Angesichts dieser Herausforderungen ruft man nach einer umfassenden Vermittlung digitaler Kompetenzen – vom Kindergarten bis zum Altersheim. Erleben wir eine unvermeidbare Rückkehr individueller Verantwortung angesichts des Verlustes an Strukturen und Sicherheiten einer analogen Welt?

Aber kann die Vermittlung individueller Kompetenzen allein das Vakuum füllen, das die Digitalisierung an der Stelle alter Gewissheiten hinterlässt? Digitale Kompetenzen müssen jedenfalls zahlreiche Dimensionen abdecken: Medienkompetenz für den Faktencheck, praktische Kompetenz beim Schutz von persönlichen Daten, soziale Kompetenz, um sich gegen Hate-Mails zu wehren, technische Kompetenz, um die Funktionsweise von Algorithmen zu verstehen, wirtschaftliche Kompetenz für ein erfolgreiches Agieren auf digitalen Märkte, didaktische Kompetenz, um digitale Bildungstechnologien anzuwenden.

Angesichts solcher anspruchsvoller Kompetenzprofile droht eine Überforderung der Menschen in einer digitalen Gesellschaft, ihrer Fähigkeiten und Lernbereitschaft, aber auch ihrer begrenzten Ressourcen an Zeit und Aufmerksamkeit.  

„Empowerment“ fördert Autonomie und Selbstbestimmung

Ein ganzheitlicher Blick auf das Problem ist nötig. Welche Anforderungen an individuelle digitale Kompetenzen sinnvoll sind, ist abhängig von der digitalen Erfahrungs- und Handlungswelt der Menschen. Die Idee des „Empowerment“ ist ein geeigneter Leitgedanke, auch wenn es keine gute Übersetzung für diesen Begriff ins Deutsche gibt. „Empowerment“ als Ertüchtigung und Befähigung zum autonomen und selbstbestimmten Handeln ergibt sich nicht durch die isolierte Stärkung persönlicher Potenziale. Die Vermittlung individueller Kompetenzen muss vielmehr eingebettet werden in eine Gestaltung der Umwelt, die Orientierung und Entscheidung wirksam unterstützt und damit unrealistische Anforderungen an individuelle Expertise vermeidet.

Digitale Innovationen können diese Unterstützungsfunktion erfüllen. Ziele solcher Innovationen können sein:

  • für den Faktencheck einfach anwendbare digitale Mechanismen zur Überprüfung entwickeln und digitale Präsenz vertrauenswürdiger Informationsquellen sicherstellen;
  • zum Schutz von Privatheit und persönlichen Daten digitale Werkzeuge unter Berücksichtigung menschlicher Kognition und Psychologie konzipieren;
  • persönliche Anfeindungen im Netz durch digitale Methoden sozial sichtbar machen und digitale zivilgesellschaftliche Gegenstrategien unterstützen;
  • für die algorithmenunterstütze Lösung von Problemen eine vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz entwickeln, die auch für Laien transparent und erklärbar ist;
  • auf digitalen Märkten unabhängige Bewertungen verfügbar machen, die Überprüfung von E-Commerce-Händlern erleichtern und den digitalen Austausch von Verbraucherinnen und Verbrauchern fördern;
  • für Lehrende in Bildungstechnologien für digitale Lernumgebungen, intelligente Tutorensysteme, digitale Diagnose von Lernfortschritten und effiziente Lernplattformen investieren;
  • in der öffentlichen Verwaltung Daten digital bereitstellen, digitale Kommunikationskanäle und eine standardisierte Digitalisierung von Verwaltungsabläufen implementieren.

Digitale Innovationen gemeinsam entwickeln und umsetzen

Ein Vorbild ist die erfolgreiche Entwicklung digitaler demokratischer Innovationen, getrieben häufig von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die demokratische Prozesse durch online-vermittelte bürgerschaftliche Partizipation fördern wollen. Auch hier kommt es darauf an, Inklusion und Teilhabe durch kreative und barrierefreie Zugangsmöglichkeiten zu erleichtern.

Wenn es das Ziel ist, möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, die Potentiale der Digitalisierung erfolgreich zu nutzen, darf es keine prohibitiven Anforderungen an digitale Kompetenzen geben. Es müssen in der digitalen Welt entlastende Strukturen geschaffen werden, die auch mit notwendigerweise limitierten persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten ein erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Zur Entwicklung solcher digitaler Innovationen bedarf es interdisziplinärer Forschung, kreativer Konzepte aus Unternehmen, Initiativen der Zivilgesellschaft und der gezielten Förderung durch die Politik.

Michael Baurmann ist Professor für Soziologie an der Universität Düsseldorf und wissenschaftlicher Direktor des Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum.

Das CAIS wird zu einem zentralen Institut für Digitalisierungsforschung ausgebaut. Dazu findet heute um 17 Uhr die Übergabe des Zuwendungsbescheids durch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und die Landeswissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen statt. Die Veranstaltung mit kann per Livestream unter www.cais.nrw verfolgt werden.

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