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Digitalisierung & KI

Standpunkte Statt Tiktok & Co: Eine europäische Medienplattform

Matthias Pfeffer, Direktor des Councils for European Public Space
Matthias Pfeffer, Direktor des Councils for European Public Space Foto: Heidi Scherm

Für junge Menschen ist Tiktok ein entscheidender Informationskanal. Die öffentlich-rechtlichen Medien laufen ihnen dorthin nach. Doch stattdessen müsste Europa eigene Infrastrukturen aufbauen. Matthias Pfeffer fordert die Einrichtung eines Nachrichten- und Informationsnetzwerks.

von Matthias Pfeffer

veröffentlicht am 20.03.2024

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2024 hat Europa die Wahl. Ein wachsendes Problem für unsere Demokratie ist die entstellte Öffentlichkeit, in der längst schon kein Raum mehr ist, Debatten mit dem Ziel zu führen, dass die besseren Argumente sich durchsetzen. Ein Grund dafür: Die immer noch sogenannten sozialen Medien, die schon lange die neue Medienrealität definieren, haben den öffentlichen Raum in eine Arena der Aufregungsmaximierung verwandelt, die allein ihren Profitinteressen dient, und dafür Propagandisten Tür und Tor öffnet.

Bei dieser Wahl ist vieles anders als zuvor: Zum ersten Mal wird im verstärkten Maße neue generative Künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt, die nie gekannte Möglichkeiten zur Manipulation der Massen haben. Und in Deutschland dürfen bei dieser Wahl zum ersten Mal schon 16-Jährige über die Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes entscheiden.

Meinungsbildung für Jugendliche bei Tiktok

Fragt man, wo diese Generation ihre Informationen be- und ihre Meinungsbildung vollzieht, lautete die Antwort darauf: Tiktok. Die chinesische Plattform hat weltweit die Kinder und Jugendzimmer erobert. Wer sich als Teenager ein Bild der Welt macht, tut das in aller Regel in den Blitzlichtgewitterclips von Tiktok, in dem Influencer, Stars und Möchtegern-Stars Klick an Klick neben Propagandisten wahlweise aus Russland, Nordkorea oder dem Iran laut um Aufmerksamkeit schreien. Die Logik der Algorithmen, die bestimmen, was für diese Zielgruppe relevant ist und sichtbar wird, wird bei diesem chinesischen Unternehmen ganz sicher nicht nach Kriterien bestimmt, die dem Ideal einer demokratischen Willensbildung entsprechen oder auch nur mit der psychologischen Entwicklung von Heranwachsenden vereinbar sind. Der Raum aber, in dem Informationen über die Welt bezogen und Meinungen eingeübt werden, ist der zentrale Betriebsraum der Demokratie.

Geht es um diesen Betriebsraum, ist man beim Kernauftrag der öffentlich-rechtlichen Medien angelangt. Doch fragt man sie, wie sie die junge Zielgruppe noch erreichen, lautet die Antwort: durch Angebote auf Tiktok und Instagram. Die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, anstatt dort, wo man möchte, dass sie sind, das ist seit den Anfängen der Digitalisierung ist ein geflügeltes Wort von Medienmachern.

Doch klar ist, wer dabei das Sagen hat: Um bei Tiktok und Co erfolgreich zu sein, muss man in letzter Konsequenz auch Inhalte herstellen, die den erbarmungslosen Gesetzen der Algorithmen der Aufmerksamkeitsökonomie gehorchen. Eine Studie der Heinz-Böckler-Stiftung zeigte, dass öffentlich-rechtliche Anstalten ihre Inhalte zunehmend den Algorithmen der Big Tech Plattformen anpassen. Während sie so junges Publikum erreichen, verlieren sie allerdings ihren öffentlich-rechtlichen Kern zugunsten eines subjektiven Betroffenheitskults aus den Augen. Die Folge: von der Darstellung einer gefühlten Wirklichkeit zu gefühlten Fakten ist es nicht mehr weit.

Eine europäische Informations-Infrastruktur als Alternative

Dabei waren sie nie so wichtig wie heute: öffentlich eingerichtete und finanzierte, rechtsstaatlich organisierte und dadurch unabhängige, und der Öffentlichkeit, die sie bezahlt, verpflichtete Medien, die zwischen Fakten und Fiktionen unterscheiden und vertrauenswürdige Informationen für eine Wissensgesellschaft liefern, die darauf als ihren wichtigsten Rohstoff angewiesen ist. Das geht nur, wenn dieser Kernauftrag in den Mittelpunkt gestellt wird und – ebenso wichtig – eine eigene, diesem öffentlich-rechtlichen Auftrag entsprechende Infrastruktur geschaffen wird.

Eine Infrastruktur, die eigene Such- und Empfehlungsalgorithmen bieten muss, die nicht in die Enge von Selbstbestätigungsblasen, sondern in die Weite des Blickes für und von anderen führen. Software übt heute maßgebliche Meinungsmacht aus, indem sie entscheidet, was wir von der Welt erfahren. Setzen wir sie also ein, um ein möglichst zutreffendes Bild der Welt zu bekommen.

Eine KI-gestützte Übersetzungssoftware könnte zudem eine Echtzeitübersetzung in alle Sprachen Europas ermöglichen. Erstmals könnten damit vertrauenswürdige Nachrichten über Sprachgrenzen hinweg für alle Europäer zugänglich werden. Ein europäisches Pfingstwunder wechselseitiger Verständigung – ermöglicht durch KI. Wenn Hannah Arendt recht hatte, dass die Fähigkeit, die Perspektive des Anderen einzunehmen, der Anfang des Politischen ist, so hat Europa heute die historische Chance, sich politisch handlungsfähig zu machen. Und zwar durch die Einrichtung eines Nachrichten- und Informationsnetzwerks von Medienanbietern, das allen Bürgern Zugang zu vertrauenswürdigen Informationen ermöglicht. Und das in allen 24 europäischen Amtssprachen.

Ein solches europäisches Nachrichtennetzwerk muss von der Politik gefördert und finanziert werden. Dennoch wäre es alles andere als die zentralistische Perspektive von Brüssel oder Straßburg auf Europa, sondern die Zusammenschau der vielfältigen nationalen und regionalen Perspektiven auf die gemeinsamen Herausforderungen. Ein dezentrales Netzwerk, das die Vielfalt Europas für Europa sichtbar machen kann.

Und das schönste: Mit wenig Aufwand könnte ein gemeinsamer europäischer Informations- und Kommunikationsraum entstehen, der mit einem Schlag die Medienvielfalt in allen Mitgliedsländern erhöhen würde. Nicht eine Minute neuen Materials, kein neuer Artikel müsste für diesen Vielfaltsgewinn produziert werden. Es reicht, das zu verbinden und zugänglich zu machen, was bereits existiert und im Falle der öffentlich-rechtlichen Sender mit 27 Milliarden Euro pro Jahr von den Bürgern Europas finanziert wird. Ganz nebenbei würde ein Markt von nahezu 500 Millionen Mediennutzern entstehen, die nicht mehr durch Sprachgrenzen getrennt sind. Was wäre eine bessere Zukunftsausrichtung der Öffentlich-Rechtlichen, als diese öffentlich finanzierte Informationsmacht auch endlich allen Bürgern in ganz Europa öffentlich zugänglich zu machen?

Umberto Eco sagte einst, die Sprache Europas sei die Übersetzung. Wenn das stimmt, dann haben wir mit KI den Schlüssel zu einem besseren Verständnis und zum weiteren Zusammenwachen Europas in der Hand. Warum sperren wir damit nicht die Tür zu einer demokratischen und friedlichen Zukunft auf? Und warum tun wir das nicht im Superwahljahr 2024, wo viele weltweit wichtige Weichenstellungen vorgenommen werden? Wagen wir es also, uns unserer eigenen europäischen Mittel zu bedienen, um den Weg aus der selbstverschuldeten digitalen Abhängigkeit von wenigen Big Tech Plattformen zu finden. Sapere Aude, Europa!

Matthias Pfeffer ist Gründungsdirektor des Councils for European Public Space, das sich für eine europäische Öffentlichkeit einsetzt. Von ihm erschien zuletzt „Menschliches Denken und Künstliche Intelligenz. Eine Aufforderung.“ im J.H.W.Dietz Verlag.

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