In Zürich erscheint dieser Tage ein Theaterstück über die schweizerische Liebe zum Öffentlichen Verkehr. Diese Zuneigung lässt sich nüchterner auch in Zahlen ausdrücken: Die Eidgenossen legen im Jahr durchschnittlich doppelt so viele Kilometer per Zug zurück wie die Bundesbürger. Das möchte die Bundesregierung ändern. Ihr Ziel laut Koalitionsvertrag: Bis 2030 die Verkehrsleistung auf der Schiene verdoppeln. Nur so sind die Pariser Klimaziele erreichbar.
Nun liegt mit dem Bundeshaushalt 2021 eine Blaupause auf dem Tisch, um höhere Mittel für die Schiene zu realisieren. Heute kann der Bundestag mit seiner Zustimmung auch einen klimaneutralen Re-Start aus der Covid-19-bedingten Krise anschieben. Für Deutschland wie für Europa ist die neue Priorität für die klimaneutrale Mobilität des 21. Jahrhunderts eine gigantische Chance. Doch drei Dinge müssen sich ändern, damit wir diese Chance nutzen können.
Erstens: schnelle Investitionen
Wer bei neuer Mobilität geizt, wird die Resultate teuer bezahlen. Klimapolitisch ist der Verkehrssektor in die Sackgasse geraten: Seit 1990 konnte er seine Emissionen nicht nennenswert senken. Fossil geht es nicht weiter. Weder in endlosen Lkw-Kolonnen noch in zermürbenden urbanen Staus. Auf der Schiene hat Elektromobilität ihr natürliches Habitat: Fast 90 Prozent der Verkehrsleistung sind emissionsfrei elektrisch. Deshalb sind Investitionen in die weitere Elektrifizierung und alternative Antriebe wie Wasserstoff, Batterie und Hybrid direkt klimawirksam.
Mit Recht sieht der Bundeshaushalt zudem Anreize für die Modernisierung des Netzes und der Bahnhöfe vor. Doch Investitionen müssen schneller umgesetzt werden. Absurd lang ziehen sich wichtige Großprojekte in Deutschland. Ein Schnellläuferprogramm soll jetzt für ein Upgrade der Stellwerke sorgen – und so das digitale Schienennetz von morgen forcieren. So bahnt Schiene 4.0 eine neue Ära sowohl für den Klimaschutz als auch für die Fahrgäste: Züge werden digital noch verlässlicher, extrem pünktlich und noch energieeffizienter sein. Auf derselben Strecke können künftig mehr Züge fahren – und das endlich durchgehend quer durch Europa. Im Bundeshaushalt ist für das Programm eine Finanzierung vorgesehen. Es wird ein Lackmustest sein.
Zweitens: mehr Innovation
Verzicht verordnen, Katharsis predigen – das führt ins Abseits. Die Bahnindustrie in Deutschland steht für Angebote statt Verbote. Denn klimaneutrale Mobilität macht Spaß. Sie ist Ausdruck von Freiheit, Individualität und sozialem Zusammenhalt. Wie zum Beispiel der High-Speed-Zug zwischen Barcelona und Madrid. Zweieinhalb Stunden unterwegs. Fast immer pünktlich. Und: im Markt extrem erfolgreich.
Was noch 2007 eine der am höchsten frequentierten Flugrouten der Welt war, ist heute eine Domäne der Schiene. Rund zwei Drittel der Passagiere wählen hier den Zug. Weil er besser ist. Menschen schnell und sicher verbindet, ein exzellentes Reiseerlebnis verspricht, das Klima schützt und die Wirtschaft voranbringt. Den Backbone bilden Innovationen wie digitale Zugsteuerung, datenbasierte Wartung, Künstliche Intelligenz, 3D-Druck, Leichtbau. Deshalb investiert die Bahnindustrie unseres Landes jährlich rund 9 Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung.
Doch das Budget des Schienenforschungsprogramms, rund 33 Millionen Euro, fällt im globalen Vergleich, der nach Milliarden misst, fast fahrlässig bescheiden aus. Nötig sind mindestens 150 Millionen Euro jährlich. Und nötig ist eine Modernisierung der öffentlichen Vergabe, die den Markthochlauf von Innovationen jetzt viel ambitionierter aktivieren muss.
Drittens: resiliente Industrie
Inzwischen gehört es zum guten Ton, resiliente europäische Spitzenindustrien zu unterstützen, um Europas strategische Souveränität zu sichern. Richtig. Aber die Realität öffentlicher Vergaben sieht leider oft anders aus. Elementar sind offene Märkte mit gleichen Spielregeln für alle in Europa. Bizarrerweise aber diskriminiert Europa just die eigene Bahnindustrie. Denn sehr zu Recht gilt für europäische Unternehmen die Regel: Staatliche Subventionen sind nicht erlaubt. Das ist deshalb essenziell, weil sich mittels Subventionen Preise künstlich senken und mithin öffentliche Ausschreiben gewinnen lassen.
Nur: Genau das dürfen außereuropäische Staatskonzerne – in Europa. Folge: Milliarden von europäischen Steuergeldern aus dem EU-Haushalt und Konjunkturprogramm können für EU-Schienenprojekte an außereuropäische Staatskonzerne abfließen. Denn sie dürfen dank einer völlig aus der Zeit gefallenen Lücke in der EU-Subventionskontrolle europäische Wettbewerber subventioniert ausstechen.
Unfair ist das vor allem gegenüber den 400.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Europas Bahnindustrie, die in der Corona-Krise jeden Tag systemrelevante Leistungen gesichert haben. Arbeitsplätze und Innovationskraft „Made in Europe“ brauchen fairen, freien Wettbewerb. Immerhin hat die EU-Kommission dafür nun Vorschläge gemacht. Entscheidend wird sein, dass diese nicht nur auf dem Papier, sondern de facto greifen. Dafür hat nur die EU-Kommission die Kompetenz, Neutralität und zentrale Rolle.
Auch die EU hat ihre Begeisterung für die Schiene entdeckt. Erster klimaneutraler Kontinent – das ist Europas Ziel bis 2050. Dafür muss Mobilität klimaneutral werden. Dass die Schiene dazu maßgeblich beitragen kann, daran besteht in Brüssel kein Zweifel. Kurzerhand deklariert die EU-Kommission das Jahr 2021 zum „European Year of Rail“. Besser hätte das Timing nicht sein können. Denn nur wer 2021 investiert, Innovationen fördert und strategisch Klima-Industrien wie die Bahn stärkt, wird bei der Neuordnung der Weltwirtschaft nach der Pandemie-Krise eine führende Rolle spielen.